Der Artikel erschien in der April-Ausgabe 05/2017 des „Naturarzt“ unter dem Titel „Mit Spirulina gegen Mangelernährung – Von kleinen Algen und großer Hoffnung“. Erstmalig wurden einige der ersten Ergebnisse unseres Hilfsprojektes in Kolumbien veröffentlicht. Den Original-Text findet Ihr nachfolgend:
Spirulina und ihr Potential im Kampf gegen Mangelernährung bei Kindern
Autoren: Jörg Ullmann*, Pamela Reatiga Aguilar**, Francisco Javier Fernandez**, Jennifer Paola Pulido Medrano**, Lena Behrens
* Europäischer Repräsentant der Fundación Atlántida, ** Fundación Atlántida, Kolumbien
Bild: „S“pirulina „S“uperhelden !
Die Gattung Arthropira (Spirulina) gehört innerhalb der Echten Bakterien (Eubacteria) zu den Cyanobakterien, die bis 1962 auch als „Blaualgen“ bezeichnet wurden. Umgangssprachlich wird der Begriff „Blaualgen“ für dieses Taxon auch heute noch verwendet, obwohl diese nicht zu den Algen im engeren Sinne gezählt werden. Die häufigsten im Handel erhältlichen Arten sind A. platensis und A. maxima. Arthrospira ist ein mehrzelliges, filamentös wachsendes Cyanobakterium. Die Filamente können selbst bei ein und derselben Art in Abhängigkeit von den Wachstumsbedingungen spiralförmig bis gestreckt ausgebildet, von unterschiedlicher Länge und Durchmesser und mit einer unterschiedlichen Dichte der Windungen versehen sein. Unter Standard-Kultivationsbedingungen beträgt der durchschnittliche Durchmesser des Filaments 6 µm, der Durchmesser der Spirale 43 µm und die Länge der Spirale 174 µm (1).
Schon die spanischen Konquistadoren berichteten 1520, dass Spirulina von den Azteken (14.-16. Jahrhundert) aus dem See Texcoco geerntet und als Lebensmittel („Tecuitlatl“ =bedeutet: Ausscheidung der Steine) genutzt wurde (2). Auch in der Tschad-Region wird Spirulina traditionell von den Frauen der Kanembu geerntet, als Kuchen („dihe“) getrocknet und vor allem zu Soßen weiterverarbeitet (3). Heute wird Spirulina aus natürlichen Seen (z.B. in Myanmar) geerntet, der weitaus größte Teil stammt jedoch aus Aquakulturen, die weltweit, meist in sogenannten „Open Ponds“ oder „Raceway Ponds“ realisiert werden.
Spirulina ist vergleichsweise einfach anzubauen, benötigt keine fruchtbaren Böden, wächst schnell und verbraucht weniger Energie und Wasser pro Kilogramm produzierter Biomasse als Soja oder Mais (4). Aufgrund des hohen pH-Wertes und des Salzgehaltes im Medium lassen sich auch unter schwierigen Bedingungen gute Qualitäten hinsichtlich der Lebensmittelhygiene produzieren. Spirulina wird häufig als sogenanntes „Superfood“ bezeichnet. Spirulina enthält 60-70% Protein (getrocknetes Ei: 47%, Soja-Mehl: 36%, Rindfleisch: 22%), 1-3% Gamma-Linolensäure (GLA), bis zu 17% Phycobiliproteine (Phycocyanin), Carotinoide, Chlorophyll a, Mineralien, Vitamine (vor allem Vitamin A) und Sulfolipide & sulfatierte Polysaccharide mit antiviraler Wirkung (5,6). Bei den relativ großen Mengen an Vitamin B12 handelt es sich zum überwiegenden Teil (bis über 80%) um sogenannte Pseudocobalamine bzw. Vitamin B12-Analoga und dürfen damit Nahrungsergänzungsmitteln nicht mehr ausgelobt werden (6, 7). In Studien konnte gezeigt werden, dass Spirulina Cholesterol reduzieren, immunmodulierend wirken, die Wundheilung verbessern, den Muskelaufbau beschleunigen und die Nierentoxizität von Schwermetallen und Medikamenten reduzieren kann. Zudem lassen sich anti-mykotische und anti-virale Aktivitäten (inhibiert die Replikation verschiedener pathogener Viren) nachweisen, Spirulina zeigt einen positiven Effekt auf die Darmflora, bietet potentiellen Schutz vor bestimmten Herz- Kreislauferkrankungen, fördert die Exkretion von Radioisotopen und enthält Antioxidantien (8, 9, 10).
Nach den beiden Weltkriegen wurden von der FAO (Food and Agriculture Organization) der UN (United Nations) die weltweiten Probleme von Hunger und Mangelernährung in den Fokus genommen und festgestellt, dass 25% der Weltpopulation von Proteinmangel betroffen waren. In vielen Forschungsprojekten wurde daraufhin die Produktion von „single cell“ Protein mit Hilfe von Mikroorganismen, unter anderem auch Spirulina untersucht. 1967 würdigte die Internationale Gesellschaft für angewandte Mikrobiologie Spirulina als „ hervorragendes Lebensmittel („wonderful food source“)“. Auch die UN bezeichnet Spirulina 1974 auf der „World Food Conference“ als bestes Lebensmittel der Zukunft.
Heute wird Spirulina vor allem als Nahrungsergänzungsmittel oder zum Anreichern bestimmter Nährstoffe in Functional Foods verwendet, aber auch als natürliches färbendes Lebensmittel in Süßwaren (Farben „Blau“ oder durch Mischung mit z.B. gelben Färberdistelextrakt auch „Grün“), als antiviraler Extrakt in Cremes, als Tierfutter oder um in Hilfsprojekten Mangelernährung, vor allem bei Kindern zu bekämpfen.
Mangelernährung kann vielfältige Ursachen haben und ist weitverbreitet, nicht nur in Entwicklungsländern. Laut WHO sterben allerdings pro Jahr mehr als 4 Millionen Kinder unter 5 Jahren gerade in Entwicklungsländern an den Folgen von Mangelernährung. Die Idee, Mangelernährung mit Hilfe von Spirulina zu bekämpfen wurde von Fox R. D. schon 1984 entwickelt (11). Er sah die Vorteile von Spirulina vor allem in den hochkonzentrierten Nährstoffen in der Biomasse und auch in der Fähigkeit die Immunabwehr gegenüber Infektionskrankheiten zu stärken. Bucaille untersucht die Effizienz von Spirulina als Lebensmittel bei Kindern mit (Protein-Energie-) Mangelernährung (12). 1993 wurde 300 Kindern in Bangui (Zentralafrikanische Republik) eine Kombination aus Sardinen und Spirulina gegeben. Selbst in schweren Fällen von Mangelernährung konnten deutlich positive Ergebnisse erreicht werden. Das Produkt war einfach zu verwenden und von den Müttern der Kinder gut akzeptiert, wenn es entsprechend erklärt wurde (13). 1999 präsentierten Antenna und das Medical College of Madurai auf dem Welternährungs-Kongress eine klinische Studie, die zeigte, dass 1-3 g Spirulina über einen Zeitraum von 4-6 Wochen ausreichten, um leichte bis mittlere Mangelernährung bei Kindern unter 5 Jahren zu kurieren. Eine Vielzahl von Arbeiten untersuchten seit den 90iger Jahren die soziale Akzeptanz von Algen als alternatives Lebensmittel, die Kosteneffizienz eines Spirulina-Anbaus in Entwicklungsländern und die Lebensmittelsicherheit der gewonnenen Produkte. Unzählige Feld- und klinische Studien wurden durchgeführt, um den Einfluss von Spirulina auf Mangelernährung zu untersuchen. Kurze Zeit nach der Einnahme von Spirulina verbessertenn sich in der Regel Gewicht, Größe, Armumfang und die Werte für Albumin, Prealbumin, Protein, Vitamin A und Hämoglobin (14, 15, 16, 17). Eine umfassende Übersicht findet sich auch in Siva Kiran R. R. et al., 2015 (5). 2001 wurde von den Vereinten Nationen eine unabhängige Organisation in Leben gerufen, die die Bekämpfung von Mangelernährung mit Hilfe von Spirulina fördert (IIMSAM = Interngovernmental Institution for the use of micro-algae Spirulina against malnutrition) (18). Mittlerweile beschäftigen sich verschiedene Projekte weltweit mit dem Aufbau dezentraler Spirulina-Produktionen und dem Kampf gegen Mangelernährung.
Eines davon wurde Ende 2015 in der Gemeinde Luruaco im Departamento del Atlántico/Kolumbien ins Leben gerufen. In Kolumbien sind 13% der Kinder, regional sehr unterschiedlich verteilt, unter 5 Jahren von Mangelernährung betroffen. Die Hilfsorganisation Fundación Atlántida hat sich die Aufgabe gestellt, kleine dezentrale Einrichtungen für die Spirulina-Produktion zu entwickeln und die daraus gewonnenen Mikroalgen für Kinder mit Mangelernährung zur Verfügung zu stellen. Die Produktion findet in einfachen Becken unter kontrollierbaren Bedingungen statt. Die Ernte erfolgt über feinmaschige Netze und anschließender Trocknung in Trocknungsöfen. In einer ersten Pilotstudie wurden 30 Kinder mit leichten bis schweren Symptomen von Mangelernährung ausgesucht. Das Projekt wurde von zwei Ärzten und einem Psychologen fachlich betreut. Typische Symptome waren Untergewicht und eine zu geringe Körpergröße für das entsprechende Alter, auffällige Blutwerte, eingefallene Augenpartien, gelbliche Haut und teilweise Appetitlosigkeit. Zu Beginn der Studie wurden die Eltern über das Projekt aufgeklärt. Den Kindern im Alter zwischen 1 – 13 Jahren wurde über einen Zeitraum von 4 Wochen (18. April – 16. Mai 2016) eine tägliche Dosis von 1 – 2 g Spirulina gegeben, die diese in Form von Flakes durchweg gern annahmen. Vor und nach diesem Zeitraum wurden verschieden Körpermaße und 18 verschiedene Blutwerte bestimmt. Nach der entsprechenden WHO-Methode (verabschiedet in Kolumbien mit Resolution 2121 von 2010) wurde zum Beispiel für den Parameter Gewicht die Einteilung in 4 Stufen vorgenommen: 1 – Normalgewicht, 2 – Risiko, Gewicht für das Alter zu niedrig, 3 – Untergewicht, 4 – starkes Untergewicht. In allen Fällen gab es eine deutliche Verbesserung/Normalisierung der Werte! Die durchschnittliche Gewichtszunahme lag bei den 1-3-jährigen bei 32%, bei den 4-7 und 8-13-jährigen bei 13%. Zu Beginn der Studie wurden zwei Drittel der Kinder mit „4“ (starkes Untergewicht), ein Drittel der Kinder mit „3“ bzw. „2“ eingestuft. Nach vier Wochen hatten zwei Drittel der Kinder schon Normalgewicht (Stufe „1“), ein Drittel der Kinder wurde mit Stufe „2“ eingestuft. Daneben verbesserten sich der Allgemeinzustand, die Blutwerte und das Aussehen von Haut und Haaren. Zudem verschwand in einigen Fällen die vorher auffällige Appetitlosigkeit und Kinder, die sich vorher stark zurückgezogen hatten, fingen an, mit anderen Kindern zu spielen und zu reden.
Die Regierung des Departamento del Atlántico verfolgte von Anfang an den Fortgang des Projektes mit großem Interesse. Mitte September 2016 wurde es in die Regierungsstrategie zur Entwicklung der Region mit aufgenommen. Es finden mittlerweile Aufklärungs- und Weiterbildungsveranstaltungen statt, die Anzahl und die Ausbeute der Produktionsstätten wird erweitert und 2017 sollen schon 1.000 Tagesdosen Spirulina produziert und zur Verfügung gestellt werden. Zeitgleich soll ein Verfahren implementiert werden, welches die Lebensmittelsicherheit der Spirulina-Biomasse sicherstellen soll. Eine Entwicklung von einfachen Rezepten unter Nutzung lokaler Ressourcen, soll zudem die Akzeptanz dieses neuartigen Lebensmittels weiter steigern (19).
Vorteile auf einen Blick:
- Kosteneffiziente Produktion – Beispiel Indien: die Jahresration für ein Kind kostet zwischen 6 und 12 US-Dollar (12)
- Relativ einfacher Anbau, geringe Investitionskosten, dezentraler Produktion, Schaffung von Arbeitsplätzen vor Ort
- Schnelle Wirkung: 1-3 g Spirulina über wenige Wochen verabreicht kurieren Mangelernährung bei Kindern, Verbesserung der physischen Entwicklung und der kognitiven Leistungen
- Relativ einfache Sicherstellung der Lebensmittelsicherheit
Bild: Einer der ersten Open Ponds (noch nicht ganz fertig…)
(1) Kamata K. et al., 2014: Spirulina-Templated Metal Microcoils with Controlled Helical Structures for THz Electromagnetic Responses, Scientific Reports 4: 4919
(2) Diaz Del Castillo, B., 1928:The Discovery and Conquest of Mexico, 1517–1521. London: Routledge, p. 300
(3) Abdulqader, G. et al., 2000: Harvest of Arthrospira platensis from Lake Kossorom (Chad) and ist household usage among the Kanembu, M.R. Journal of Applied Phycology (2000) 12: 493
(4) E Remigio M. Maradona, 2008
(5) Siva Kiran RR et al., 2015: Spirulina in combating Protein Energy Malnutrition (PEM) and Protein Energy Wasting (PEW) – A review, J Nut Res, 3(1): 62-79
(6) Ullmann J. 2015: Algen als natürliche Vitamin B12-Quelle, Paracelsus-Magazin, 3/2015
(7) Stellungnahme des Arbeitskreises Lebensmittelchemischer Sachverständiger der Länder und des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (ALS), 2015: Stellungnahme Nr. 2015/57: Vitamin B12 in Mikroalgen, Journal für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, DOI 10.1007/s00003-016-1018-4
(8) Ullmann J. 2013: Mikroalgen im Porträt, Paracelsus-Magazin, 5/2013
(9) Richmond A. 2004: Handbook of microalgal culture – biotechnology and applied phycology, Blackwell Publishing
(10) Henrikson R. 2011: Scientific research reveals health benefits, adapted from „Spirulina World Food: How this micro algae can transform your health and our planet“, AlgaeIndustryMagazin.com, Special Report Part 4
(11) Fox R. D., 1984: Fighting malnutrition with Spirulina appropriate technology fort he third world. Worldview, II June, Washington. I, c
(12) Bucaille P., 1990: Effectiveness of Spirulina algae as food for children with protein-energy malnutrition in a tropical environment. PhD thesis, Toulouse, University Paul Sabatier, France
(13) Picard M. E., 1993: Utilisation de la spiruline au Centre Nutritionnel, Nutrition Santé Bangui, Nantes
(14) Halidou Doudou M. et al., 2008: The effect of Spiruline during nutritional rehabilitation: systematic review, Rev Epidemiol Sante Publique, Dec, 56(6), 425-31
(15) Simpore J. et al., 2006: Nutrition rehabiltation of undernourished children utilizing Spirulina and Misola, Nutr J., Jan 23, 5:3
(16) Li L., 2012: Spirulina can increase total-body vitamin A stores of Chinese school-age children as determined by a paired isotope dilution technique, J Nutr Sci., Dec 13
(17) Hug C. and von der Weid D., 2011: Spirulina in the fight against malnutrition, Fondation Antenna Technologies, antenna.ch
(19) Klötzer Know—how macht Kinder zu Superhelden, Altmarkzeitung, 12. November 2016, S.3
[…] leichten bis schweren Symptomen von Mangelernährung ausgesucht. Die Ergebnisse sind sehr positiv, hier geht es zum gesamten Artikel über das Projekt samt […]
By: Vitamin B12 aus Algen: Ist in Chlorella doch aktives Cobalamin? | Nicole Just - Vegane Rezepte, DIY und Garten on 9. Januar 2018
at 18:42